Union Berlin: Unter dem Druck der Sensation

An einem warmen Sommerabend im Juli 2013 schien jedem klar, dass, neben den bekannten Traditionsvereinen aus Kaiserslautern, Köln, Fürth und Düsseldorf ein weiterer Club in der kommenden Saison für Furore sorgen würde. Union Berlin hatte soeben nicht nur die fertiggestellte Haupttribüne des Stadions an der Alten Försterei eingeweiht, sondern beinahe nebenbei den schottischen Meister, Champions-League-Teilnehmer und Barcelona-Besieger Celtic Glasgow mit 3:0 überrannt und das - selbstverständlich ausverkaufte - Stadion zum Beben gebracht. Ein halbes Jahr später ist Union nach wie vor der Geheimtipp für den Aufstieg aus der 2. Liga, erlebte in seiner ersten Hinrunde als Mitfavorit aber auch die Schattenseiten dieses Prädikats.

Für jeden Spitzensportler ist er allgegenwärtig: der Druck. Diese ungreifbare Kraft, zu der Oliver Kahn seinerzeit eine innige Hassliebe pflegte und damit den Begriff im Fußball erst richtig etablierte. Der Druck traf Union Berlin nach den Lobeshymnen der Saisonvorbereitung direkt am ersten Spieltag. Der Gast aus Bochum entpuppte sich als äußerst zäh und verpasste den Unionern die klassische unverdiente Auftaktniederlage, die schon viele Spitzenteams in ihren Saisonvorstellungen gehörig durcheinandergerüttelt hatte. Doch der FCU legte nach, im negativen Sinne, und verpatzte auch den Auswärtsauftakt bei Aufsteiger Arminia Bielefeld mit 1:1. So schnell, wie die Loblieder gekommen waren, so schnell wurden sie auch merklich leiser und vor dem dritten Spieltag und dem prestigeträchtigen Duell bei Dynamo Dresden lag das Augenmerk spürbar auf der Partie und weniger auf potenziellen Saisonzielen der Köpenicker. Das Resultat war eine erheblich befreiter aufspielende Mannschaft und ein 3:1-Auswärtssieg bei der SGD. Der Erfolg wirkte wie ein Brustlöser und die folgenden zehn Spiele brachten starke 23 Punkte und zwischenzeitlich gar die Tabellenführung ein. Gegen St. Pauli drehte man ein 0:2 noch zum 3:2-Sieg, Paderborn und Sandhausen wurden hintereinander weg jeweils mit 3:0 weggeputzt. Der einzige Schandfleck dieser großartigen Serie wurde im weiteren Saisonverlauf symptomatisch.

Hohe Niederlagen in Köln und Kaiserslautern

Am 8. Spieltag kam es zum absoluten Topduell in der Liga, Union empfing als Tabellenführer den Zweiten aus Fürth und war in bestechender Form. Trotz Berliner Führung, zeigten die bundesligaerprobten Fürther den Köpenickern in aller Deutlichkeit die Grenzen auf und siegten am Ende verdient mit 4:2. Etwas mehr als einen Monat später, Union hatte sich mit drei Siegen aus vier Spielen problemlos erholt, lud der 1. FC Köln zum Topspiel und die damals zweitplatzierten Unioner gingen noch schmerzhafter unter als zuhause gegen Fürth. 4:0 wurde man aus dem Stadion geprügelt, ohne zu ahnen, dass diese Demütigung nur die Spitze des Eisbergs war. Es folgte nur ein Punkt aus den nächsten vier Spielen, bei einem Torverhältnis von 2:8, der 1.FC Kaiserslautern wiederholte seinen 3:0-Sieg direkt im folgenden Pokalspiel. Union rutschte von den Aufstiegsrängen auf Platz 7 und konnte sich erst kurz vor der Winterpause mit zwei Siegen in Bochum und gegen Bielefeld  zurückmelden, die man immerhin mit jeweils vier eigenen Toren für sich entscheiden konnte.

Union Berlin boomt

Trotzdem ließ die Hinrunde viele Fragen zur sportlichen Zukunft der Köpenicker offen. In den Topspielen stets als Verlierer vom Platz gegangen, stellt sich die Frage, wie sehr die Lobpreisungen zu Saisonbeginn und während der Siegesserie die Mannschaft von Uwe Neuhaus hemmen. Früher hätte eine Niederlage gegen die Topteams der Liga keinen Untergang bedeutet, heute rechnen Medien und nicht wenige Fans sofort den Abstand zu den Aufstiegsrängen aus. Union Berlin boomt nach außen mehr denn je, vom kleinen Mitgliederverein der 00er-Jahre ist 2014 nicht mehr viel übrig. Heute schütteln langjährige Unioner den Kopf darüber, dass Touristen in die Wuhlheide kommen, um „ihren“ kleinen Club spielen zu sehen, von dem man „so viel gehört“ habe. Da liegt es nahe, dass auch auf sportlicher Ebene der Erfolg gesucht wird. Aber bekommt er im sonst so beschaulichen Randbezirk auch nach wie vor die Chance, sich in Ruhe entwickeln zu können, wie es die letzten Jahre der Fall war, oder zerbricht der FCU am Druck, der momentan vor allem von außen kommt? Man beschäftigt sich mit dem Aufstieg, das lassen Aussagen von Offiziellen und Spielern vermuten, aber man erzwingt ihn nicht. Realismus? Beruhigung? Ablenkungsmanöver?

Braunschweig-Gleichung geht nicht auf

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage nach einer anderen Form des Drucks: Der eigenen Zielstrebigkeit. Man will und kann einem Verein, der sich wirtschaftlich und sportlich so großartig entwickelt hat auf keinen Fall mangelnde Zielstrebigkeit vorwerfen, allerdings ist Union den Medienberichten zum Trotz noch lange keine Topmannschaft mit dem unbedingten Siegergen. Und hier beginnt das tatsächliche Schattendasein, welches die Köpenicker fristen: Die sensationsliebenden Medien in Berlin erwarten vom Verein eine ähnliche Überraschung, wie den Aufstieg der Braunschweiger Eintracht in der Vorsaison, ungeachtet dessen, dass solch eine Überraschung gar nicht antizipierbar ist. Mehr noch, dass solch eine Überraschung erst entsteht, weil sie nicht zu erwarten war, weil sie auf einer Euphoriewelle schwimmt, die den betreffenden Verein bis ins Ziel trägt. In Berlin wollte und will man nun gleiches für den 1. FC Union herbeiahnen, denn die Voraussetzungen sind ähnlich: Die Mannschaft hat wie Braunschweig Potenzial, ohne der ganz große Favorit zu sein, dazu einen Trainer und mehrere Spieler, die seit Jahren zusammenarbeiten und aus den untersten Ligen nach oben geklettert sind. Warum der Erfolg von Braunschweig nicht auf die Berliner zu übertragen ist? Weil man der Mannschaft mit der besagten Erwartungshaltung eine Identitätskrise aufbürdet, die sie selbst womöglich noch nicht meistern kann. Braunschweig konnte in der vergangenen Saison auch Niederlagen mitnehmen, weil jeder nur darauf gewartet hat, dass ihre Leistungen einbrechen, während sich Union Berlin als gehobene und wachsende Mittelfeldmannschaft auf einmal in Topspielen gegen Kaiserslautern und Köln wiederfindet, die man möglichst auch zu gewinnen habe.

Quiring in der Luft

Dass das bisher rein spielerisch noch gar nicht möglich ist, zeigen auch Strukturen innerhalb der Mannschaft. Praktisch alles hängt von Kapitän und Legende Torsten Mattuschka ab, der mit 33 Jahren seinen gefühlten fünften Frühling erlebt und Unions Mittelfeld bereits in der 4. Liga dirigierte. Dahinter kommt praktisch kein Spieler, der die gesamte Hinrunde über sein Potenzial und seine Qualität dauerhaft ausgeschöpft hat. Spieler wie Adam Nemec, Sören Brandy oder Damir Kreilach zeigten oft starke Ansätze, tauchten in anderen Spielen aber wieder völlig ab. Teamkollegen wie Simon Terodde oder Christopher Quiring konnten heute das Spiel entscheiden und morgen schon auf der Bank sitzen, im Falle von Quiring umgekehrt. Das Eigengewächs bekam kein einziges Spiel über 90 Minuten, ohne dabei sonderlich schlecht zu spielen oder einem stärkeren Konkurrenten auf der eigenen Position den Platz überlassen zu müssen. Quiring, beim 4:0 in Bochum Sieggarant, gefällt sich in dieser Rolle gar nicht, eine Leihe steht im Raum. Um den Vergleich noch einmal heranzuziehen: Auch in Braunschweig gab es keine tiefe und vielschichtige Mannschaft, die den Aufstieg realisierte, aber die Spieler, die da waren, stachen allesamt eiskalt zu. Kumbela, Kruppke, Boland, Ademi, Bikakcic, Vrancic – alle spielten am damaligen Limit, fast eine gesamte Saison lang.

Schablone ablehnen und weiter den eigenen Weg gehen

Union Berlin muss sich darüber klar werden, welche Ziele im Raum stehen und wie konkret sie verfolgt werden. Das Beispiel Fürth hat gezeigt, dass man jahrelang an der Spitze der 2. Liga spielen kann, ohne letzten Endes für den Aufstieg bereit zu sein. Man wünscht einer Mannschaft wie Union den Erfolg des Aufstiegs – allein für die vorbildliche Arbeit der letzten Jahre hätten sie ihn mehr als verdient. Dabei darf der Verein sich aber nicht in eine Schablone pressen lassen, die ihm von den Sensationsjägern angehängt wird. Die Köpenicker haben ihre Geschichte darauf errichtet, anders als die anderen Vereine zu sein, immer den Weg zu gehen, der für den 1. FC Union spezifisch der richtige ist. Wenn andere sich hoch verschulden, um ein Stadion zu bauen, bauen sie es selbst. Wenn die meisten Vereine die Sicherheitsbestimmungen des DFB unterschreiben, hinterfragen sie diese, ohne dabei unnötig aufrühren zu wollen. Und genau so sollte es mit dem sportlichen Erfolg aussehen. Der kommt, wenn er kommt und nicht, wenn er von anderen angekündigt wird.

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